Vor eindrücklicher Kulisse: Jugendliche des deutsch-polnischen Workcamps legen auf der polnischen Kriegsgräberstätte in Cassino Kränze nieder. (© Michele Di Lonardo / Monte Cassino Stiftung)
Monte Cassino – „Gedenkort von europäischer Dimension”
Deutsche und polnische Jugendliche halten Erinnerung an Krieg und seine Folgen wach
Höhepunkt und Abschluss eines jeden Workcamps: die Gedenkveranstaltung auf einer Kriegsgräberstätte, so auch bei der binationalen Jugendbegegnung in Italien. Knapp zwei Wochen setzte sich die Gruppe an Originalschauplätzen mit dem Zweiten Weltkrieg auseinander – und das aus verschiedenen Perspektiven. Bildungsreferent Dr. Vinzenz Kratzer war vor Ort. Hier schildert er seine Eindrücke.
Cassino, 27. Juli 2025. Es ist der elfte Tag des Workcamps in Cassino. In den vergangenen anderthalb Wochen haben 20 Jugendliche aus Deutschland und Polen gemeinsam an Kriegsgräberstätten in Costermano und Cassino gearbeitet, viel über Geschichte gelernt und diskutiert, Schicksale polnischer und deutscher Kriegstoter nachvollzogen und die Metropolen Mailand und Rom besucht.
Vor allem aber ist diese Gruppe in den vergangenen Tagen zusammengewachsen: Aus Einzelpersonen beider Ländern ist eine Gemeinschaft geworden. Von außen ist nicht zu erkennen, wer aus welchem Land kommt. In einer bunten Mischung und in allen möglichen Sprachen wird diskutiert, gelacht, gesungen.
Karaoke und Kriegsgräberpflege
Ernst und Ausgelassenheit sind im Camp nah beieinander: Die Jugendlichen haben es zur Tradition gemacht, sich die zahlreichen Busfahrten mit Karaoke-Sessions zu versüßen – man spielt viel „Abba”, Euro-Pop und Songs aus den deutschen und polnischen Charts. Die Stimmung ist ausgelassen, manchmal ein bisschen albern, aber immer sehr positiv.
Beim letzten Pflegeeinsatz des Workcamps auf der deutschen Kriegsgräberstätte weicht die Ausgelassenheit einer konzentrierten Stille. Viele arbeiten allein an einem Grabstein, manche zu zweit vis-a-vis. Die Gespräche sind leise. Zur Mittagspause zaubern die Betreuerin Kaja Gorzelak und ihr Küchenteam ein herrliches Picknick mit Antipasti, Snacks und Obstsalat; wir sitzen auf den niedrigen Umfassungsmauern des Friedhofs unter Pinien und genießen den Blick über das Tal.
Der Teufel im Detail
Trotz der positiven Grundstimmung ist zunehmend eine atmosphärische Spannung spürbar: Morgen findet die abschließende Gedenkveranstaltung statt, die – wie in Workcamps üblich – die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst gestalten. In den vergangenen Tagen hatte das Betreuerteam diese Aufgabe an die Gruppe herangetragen. Erste Pläne sind geschmiedet, Moderatorinnen und Moderatoren sind auserkoren.
Aber der Teufel steckt im Detail: Da ist dieses polnische Lied, das jede Polin und jeder Pole sofort mit Cassino verbindet: „Roter Mohn auf dem Monte Cassino“. Auf Grund von ziemlich martialischen Liedzeilen lehnen es aber manche aus der Gruppe ab. Da ist außerdem die Frage, ob die Nationalhymnen gespielt werden sollen – oder nicht …
Mit Kompromissen zum Ziel
Da sind tausend kleine Fragen und Entscheidungen, die die jeweiligen nationalen Empfindsamkeiten, aber auch die persönlichen Meinungen der jungen Leute betreffen und die sorgfältig bedacht und abgewogen werden müssen. Nach den Pflegearbeiten des Vormittags und bei 35 Grad im Schatten sicher weder eine angenehme noch leichte Aufgabe. Aber wir schließen Kompromisse und lösen sie gemeinsam.
Prominenter Besuch
Auch die Fallhöhe ist enorm: Das Camp hat einen hohen Stellenwert, schon alleine wegen der deutsch-polnischen Gruppenkonstellation an diesem besonderen Ort. Hinzu kommt, dass Italien am Volkstrauertag in diesem Jahr das Partnerland ist.
Darüber hinaus haben sich für die Gedenkveranstaltung zahlreiche Gäste angekündigt: neben Vertretern der polnischen wie der deutschen Botschaft der Vizepräsident des Volksbundes, Detlef Fritzsch, und Dr. Dirk Reitz, Geschäftsführer des Landesverbandes Sachsen, sowie einige Gäste aus der lokalen Zivilgesellschaft. Dominic Lagoski, der sehr erfahrene und engagierte Campleiter, ordnet zur Sicherheit eine allerletzte Generalprobe an, die morgen, kurz vor der Abfahrt zum Friedhof stattfinden soll.
Die Spannung steigt
28. Juli 2025, zwei Stunden vor der Gedenkveranstaltung: Die Gruppe trifft sich zu einer schnellen Generalprobe, aber auf dem tristen Beton des Hinterhofs will nicht die richtige Stimmung aufkommen. Es fallen ein paar scharfe Worte, die Anspannung ist mit Händen zu greifen. Texte werden ein letztes Mal eingesprochen, Worte gestrichen, andere hinzugefügt, ein letzter, ernster, prüfender Blick in den Schminkspiegel.
Im Bus dann aber natürlich trotz allem: Karaoke muss sein. Jonas D‘Orsi, einer der Teamer und der einzige italienische Muttersprachler des Camps, verdreht schon die Augen ob des zwar mit Inbrunst, aber doch nicht besonders korrekt vorgetragenen italienischen Textes.
Kreativität und Herzblut
Nach 20 Minuten Fahrt erreichen wir die polnische Kriegsgräberstätte am Fuß des altehrwürdigen Benediktinerklosters Monte Cassino, das vor 81 Jahren nach einem Luftangriff der Alliierten vollkommen zerstört wurde. Die Gedenkveranstaltung – zuerst auf der polnischen, dann auf der deutschen Kriegsgräberstätte – meistern alle mit Bravour.
Man merkt, wie viel Kreativität, Herzblut und Reflektion in jedem einzelnen Beitrag stecken: polnisch- und deutschsprachige Gedichte von Sonia, Weronika und Felix – im ersten Fall mit Sorgfalt ausgewählt und interpretiert, im zweiten Fall eigens für diesen Anlass geschrieben. Die Jugendlichen haben in mühevoller Kleinarbeit dutzende Origami-Tauben gefaltet, die wir als Friedenszeichen auf der polnischen Kriegsgräberstätte niederlegen.
„Ode an die Freude“
Es folgt Beethovens „Ode an die Freude“, die Europahymne, gesungen auf Englisch und in allen Sprachen der Anwesenden – das würdige Ergebnis der oben erwähnten Diskussion um die Nationalhymnen.
Unbestrittenes Highlight ist der musikalische Beitrag eines deutsch-polnischen Trios: Vorgetragen in der Krypta der deutschen Kriegsgräberstätte mit Neeles wunderschönen raumfüllenden, tiefen Stimme und einer sanften Begleitung durch Gesang und Gitarre von Cezary und Alina. Ein Gänsehautmoment, den man so schnell nicht vergisst.
Dialog ist notwendig
In seiner Ansprache lobt Detlef Fritzsch das Engagement der jungen Menschen und ihre Bereitschaft, sich nicht nur mit der Geschichte auseinanderzusetzen, sondern den Austausch zu suchen und demokratische Werte zu stärken.
Der Monte Cassino sei „heute ein Gedenkort von europäischer Dimension“. Er sei ein Lernort, wo Geschichte erleb- und greifbar werde. „Aber dazu reichen ‚edukative Elemente‘ alleine nicht“, so der Volksbund-Vizepräsident. „Es bedarf hier des Dialogs zur Annäherung an unsere gemeinsame Geschichte.“
Was bleibt?
Nach der Veranstaltung blickt man in viele glückliche, vielleicht auch ein paar erleichterte Gesichter. Es folgen angeregte Gespräche zwischen den Jugendlichen und den Gästen, die auch noch lange nach der Feier keine Eile haben, den Ort zu verlassen.
Was bleibt nach zwei Wochen Workcamp, einer Zeit, in denen die Jugendlichen gemeinsam gearbeitet, gelernt, diskutiert und viel Neues erlebt haben? Nach zwei Wochen in denen auf den Friedhöfe Costermano und Cassino ihre Stimmen, ihre Musik, auch ihr Lachen zu hören war?
Engagierte Unterstützer
Es bleibt ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für die vielen Menschen, die dieses Workcamp durch ihre Unterstützung und ihr Engagement möglich gemacht haben: Pino Valente und Laura Salera, deren zivilgesellschaftliche Initiative „Cassino MIA“ bei den Pflegearbeiten mitgeholfen hat. Michele Di Lonardo, ein treuer Gast der Workcamp-Gedenkveranstaltung, der mit seinen vielseitigen Kontakten manche Tür geöffnet hat. Pietro Rogacien und sein Sohn und Übersetzer Marco, als Präsident der Stiftung des Museums des Zweiten Polnischen Corps ein wichtiger Partner bei der Programmgestaltung des Camps. Auch die Bundeswehr unterstützte mit Fahrern und Köchen.
Es bleibt der Eindruck, dass für diese Generation die europäische Integration auf einer bestimmten Ebene komplett selbstverständlich ist – die Leichtigkeit mit der 16-, 17-Jährige über Ländergrenzen hinweg eine Gruppe bilden, ins Gespräch kommen, sich austauschen, ist bewundernswert.
Andererseits wird deutlich, dass gegenseitiges Verständnis gerade in der Erinnerungskultur, gerade im Blick auf die Geschichte nach wie vor harter Arbeit bedarf. Diese Jugendlichen haben gezeigt, wie das geht.
Text: Dr. Vinzenz Kratzer
Kontakt
Der Volksbund ist…
… ein gemeinnütziger Verein, der im Auftrag der Bundesregierung Kriegstote im Ausland sucht, birgt und würdig bestattet. Mehr als 10.000 waren es im vergangenen Jahr. Der Volksbund pflegt ihre Gräber in 45 Ländern und betreut Angehörige. Mit seinen Jugend- und Bildungsangeboten wie Workcamps und PEACE LINE erreicht er jährlich rund 38.000 junge Menschen. Für seine Arbeit ist er dringend auf Mitgliedsbeiträge und Spenden angewiesen.
